Samstag, 10. September 2016

Das Erstaunliche am Leben

Das Erstaunliche am Leben ist der völlige Mangel jedes Scheins einer Versöhnung zwischen der Theorie und der Praxis des Lebens? Die Vernunft, gepriesene Wahrheit, das Gesetz wird hie und da für einen klaren und tiefen Augenblick erkannt, mitten in dem Getöse von Sorgen und Arbeit, die nicht direkt von ihr abhängig sind, geht dann wieder verloren, für Monate oder Jahre, um wieder für eine kurze Spanne Zeit gefunden und wieder verloren zu werden. Wenn wir diese Intervalle zusammenrechnen, haben wir in fünfzig Jahren vielleicht ein halbes Dutzend vernünftiger Stunden gehabt. Sind die Sorgen und die Arbeit dadurch leichter und wertvoller geworden? Eine Methode können wir in der Welt nicht entdecken, nur diesen Parallelismus von Großem und Kleinem, die nie aufeinander zurückwirken, nie die geringste Tendenz zum Konvergieren zeigen. Erfahrungen, Schicksale, politische Ereignisse, Lektüre, Schriftstellerei machen uns so wenig klug, als wenn ein Mensch ins Zimmer tritt, sich aus dem Anschein erkennen läßt, ob er sich von Brot oder Fleisch genährt hat.
...................
Und der Mensch muß lernen, in dem Wechselnden und Fliehenden nach dem Dauernden zu schauen; er muß lernen, den Untergang von Dingen, die er verehrte, zu ertragen, ohne seine Ehrfurcht zu verlieren; er muß lernen, daß er da ist, nicht um zu arbeiten, sondern um sich bearbeiten zu lassen, und daß, ob Abgründe unter Abgründen sich auftun mögen und eine Anschauung die andere verdrängt, alle zuletzt enthalten sind in dem Einen Ewigen Grunde. 
»Und sinkt mein Kahn, sinkt er zu neuen Meeren.« 
R.W.Emerson.

Keine Kommentare: