Montag, 12. September 2016

Hat die Welt einen erfaßbaren Sinn?

Wie lange müssen wir alle fehlgehen, bis wir schließlich nicht noch mehr desselben tun, in der Annahme, daß dieses Tun die einzig mögliche Alternative ist, sondern die Annahme selbst in Frage stellen? Wie lange müssen wir vergeblich suchen, bis wir nicht mehr glauben, noch nicht an der richtigen Stelle gesucht zu haben, sondern uns fragen, ob es das Gesuchte überhaupt gibt? 
 KARL KRAUS fand die Antwort im Prinzip, daß er, wenn er zwischen zwei Übeln zu wählen habe, keines der beiden wählt. Und noch viel schöner ist der merkwürdig tröstliche Satz, den der Engländer CHESTERTON aus POPEs Werk zitiert:  »Gesegnet sei, der da nichts erwartet, denn er soll herrlich überrascht werden«. Und CHESTERTON schreibt weiter: »Es ist eine der Millionen schmerzhafter Wahrheiten, daß wir nichts wissen, bis wir nichts wissen« ; hier ergibt sich eine grundsätzlich neue Situation, in der die Frage wegfällt und mit ihr die Notwendigkeit einer Antwort. Es erweist sich nun, daß das Suchen, die Frage, das Problem ist....
Hat die Welt einen erfaßbaren Sinn? Wenn ja, welchen, und was ist daraus zu lernen? .....ich glaube, daß eines nun doch klar ist: Der Sinn, den wir erhalten, hängt von der Sinnfrage ab, die wir stellen. Die Sinnfrage selbst aber kann sich keinen Sinn geben; sie ist nicht ihr eigener Sinn, sie ist leer in dem Augenblick, in dem sie auf sich selbst zurückfragt. In anderen Worten: Solange die Frage nach dem Sinn des Sinnes nicht gestellt wird, kann die Welt als widerspruchsfrei erlebt werden, doch selbst das ist nicht notwendigerweise der Fall. 
 Der am Unsinn der Welt Verzweifelnde ist ... weiterhin in der Illusion verfangen, daß es einen Sinn geben muß, es ihn aber nicht gibt. Dadurch erst wird für ihn die Welt und das Leben unerträglich. Und daraus erhellt auch die Absurdität und die gegenteilige Wirkung der in bester Absicht (selbst von Psychiatern) immer wieder versuchten »Aufmunterung« des Patienten. Dieser Tragik bar dagegen ist die Bemerkung des Königs in Alice im Wunderland, der nach dem Lesen des unsinnigen Gedichts des Weißen Kaninchens zur erleichterten Schlußfolgerung kommt:             
 »Wenn kein Sinn darin ist, so erspart uns das eine Menge Arbeit, denn dann brauchen wir auch keinen zu suchen«.
Was uns das Phänomen der Rückbezüglichkeit meines Erachtens lehrt, ist, daß die Welt weder einen Sinn noch keinen Sinn hat, daß die Sinnfrage sinnlos ist. Was die Welt nicht enthält, kann sie auch nicht vorenthalten. Die Welt hat einen Eigenwert, der letztlich unser eigener ist. Die Zen-Meister sollen auf die Frage nach dem rechten Weg zur Erleuchtung geantwortet haben, daß man, solange man Satori (悟り)sucht, es nicht haben kann.
Und Graf DÜRCKHEIM (1954) berichtet: Als er Altmeister Suzuki einmal »mit Bezug auf das vom Menschen immer gesuchte und ihn ja doch stetig um- und durchflutende Sein fragte, ob es etwa so sei, wie der Fisch, der nach dem Wasser sucht, antwortete er mit leisem Lächeln: »Es ist noch mehr. Es ist so, wie wenn das Wasser nach dem Wasser sucht«. Der Taoismus spricht vom wu-wei , der absichtlichen Absichtslosigkeit.
Über die enigmatische Hintergründigkeit des KAFKA-Romans Der Prozeß bestehen zahllose Deutungen .....  doch scheint die Antwort in der Schlußbemerkung des Geistlichen in der Kathedrale enthalten zu sein. Nachdem er vergeblich versucht hat, Josef K. mit der Parabel vom Türhüter zu helfen, drückt er die Sinnlosigkeit von K.s Suche nach dem Sinn schließlich in einer einzigen, ganz klaren Bemerkung aus: »Das Gericht will nichts von dir. Es nimmt dich auf, wenn du kommst, und es entläßt dich, wenn du gehst.« Josef K. hört, aber versteht nicht und geht an seiner Suche nach endgültiger Gewißheit zugrunde. 

Paul Watzlawick, Münchhausens Zopf 

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