Sonntag, 2. Oktober 2016

Die Herrschaft der Sklaven

Gerade im Hinblick auf die Rolle der Kommunikation in der nahen Zukunft zeichnen sich viel konkretere Probleme ab, die freilich angesichts jener globalen an Bedeutung
zu verblassen scheinen. Eines dieser Probleme versteckt sich in Lord KELVINs prägnantem Ausdruck: Everything that exists, exists in a quantity and can, therefore, be measured. Damit wurde er sozusagen zum Wortführer des (freilich schon lange
vor ihm bestehenden) Glaubens an die Quantifizierbarkeit unserer Welt und, damit verbunden, an die endgültige Ausmerzung alles Unlogischen und Irrationalen. 
Der moderne Computer scheint diese Hoffnung an die Schwelle ihrer Verwirklichung gebracht zu haben. Der zukünftige Einfluß der EDV auf die Struktur unserer Gesellschaft läßt sich derzeit auch nicht annähernd ermessen; bereits sichtbar aber sind die ersten Symptome dieser Entwicklung, die der rumänische Schriftsteller VIRGIL GHEORGHIU schon 1950 beschrieb:
„Eine Gesellschaft, die sich aus Millionen von Millionen mechanischer Sklaven und bloß 2000 Millionen Menschen zusammensetzt, wird - wenn sie auch von den Menschen beherrscht wird - die Eigenschaften ihrer proletarischen Mehrheit haben......Die mechanischen Sklaven unserer Zivilisation behalten diese Eigenschaften bei und leben gemäß den Gesetzen ihrer Natur..... Um seine mechanischen Sklaven verwenden zu können, muß der Mensch sie verstehen lernen und ihre Gewohnheiten und Gesetzmäßigkeiten nachahmen. [...] Eroberer übernehmen, wenn sie zahlenmäßig den Eroberten unterlegen sind, die Sprache und Gewohnheiten der beherrschten Nation, sei es der Einfachheit halber, oder aus anderen praktischen Gründen - und dies, obwohl sie die Herren sind. Derselbe Prozeß ist in unserer eigenen Gesellschaft im Gange, obwohl wir ihn nicht wahrhaben wollen. Wir lernen die Gesetzmäßigkeiten und den Jargon unserer Sklaven, um ihnen Befehle geben zu können. Und langsam und unmerklich verzichten wir auf unsere menschlichen Eigenschaften und unsere Gesetze. Wir entmenschlichen uns, indem wir die Lebensgewohnheiten unserer Sklaven annehmen. Das erste Symptom dieser Dehumanisierung ist die Mißachtung des Menschlichen.“
Wer erst als Erwachsener diese »neue Welt aus Null und Eins«
(KREUZER 1985) betrat, dürfte aus seiner Vergangenheit noch
genügend Immunität gegen jene Infektionen mitgebracht ha-
ben, denen man in der Kommunikation mit dem Genossen
Computer ausgesetzt zu sein scheint. Doch bereits auch unter
der erwachsenen Bevölkerung des globalen »Silicon Valley«  -
ob es sich nun um Mathematiker, Physiker, Ingenieure, Infor-
matiker oder andere EDV-Spezialisten handelt - beginnen sich
merkwürdige Persönlichkeitsveränderungen abzuzeichnen,
deren gemeinsamer Nenner die Unwilligkeit oder sogar Unfä-
higkeit ist, mit den ››unvernünftigen«, also unlogischen, irratio-
nalen, emotionalen Aspekten des menschlichen Zusammenle-
bens - auch, oder sogar besonders im rein persönlichen Bereich
und der Intimsphäre - fertigzuwerden. Ganz ernsthaft sehnen
diese Menschen leuchtenden Auges den Tag herbei, da endlich
alles ››Analoge« (wie es in ihrer Sprache heißt) ausgemerzt und
Welt und Menschen in den Begriffen der objektiven, »digita-
len« Logik erfaßt sein werden. Die Digitalisierung wird so zur
modernen Vision eines irdischen Paradieses.
Von dieser Entwicklung ist zu befürchten, daß sie lawinen-
artig zunehmen wird, wenn einmal die heute Acht- oder Zehn-
jährigen das Erwachsenenalter erreichen - was uns ziemlich ge-
nau zum Anbruch des dritten Milleniums bringt. Die Welt dieser
Kinder ist, wenigstens in den USA, bereits weitgehend digitali-
 siert. Damit soll gesagt sein, daß der Heimcomputer (und,
nicht zu vergessen, die Violenz der auf ihm abrufbaren elek-
tronischen Spiele) heute in Hunderttausenden von Familien
bereits das wichtigste Spielzeug geworden ist, und daß diese
Kinder daher lernen, mit einer seelenlosen Maschine zu kom-
munizieren und sich auf ihre Erfordernisse einzustellen, wäh-
rend früher das erste nicht rein familiäre Bezugsobjekt eine
Katze oder ein Hund gewesen sein mag. Wie subtil diese Ver-
kümmerung ist und wie leicht sie das Weltbild eines Kindes
beeinflussen kann, legt ein an sich unbedeutendes Beispiel
nahe: Nicht nur nimmt der Taschenrechner diesen Kindern die
Notwendigkeit der vorstellungsmäßigen Erfassung der Zahlen-
welt ab, sondern die Digitaluhr läßt das Bild eines zeitlichen
Ablaufs nicht mehr zur Ausbildung kommen, das die altmodi-
schen (Analog-)Uhren durch die Bewegung der Zeiger vermit-
telten. Die Bedeutung der Zeitangabe ››10 Minuten vor 12« ist
daher vielen dieser Kinder bereits unverständlich, ganz zu
schweigen von der Verwendung des Zifferblatts als Richtungs-
angabe z. B. in der Navigation oder Raumorientierung. (Dies
soll nicht heißen, daß die Vorstellung der Zeit als eines kreis-
förmigen Ablaufs per se besondere Wichtigkeit habe; das Bei-
spiel soll nur zeigen, wie sich subtile Änderungen im Weltbild
unzähliger Menschen durch den Gebrauch von Gegenständen
des Alltagslebens ergeben können.)
Ein weiteres bereits unübersehbares Symptom unserer
kommunikativen Zukunft sind die Folgen der Informations-
Überschwemmung auf allen Gebieten. Die technischen Mög-
lichkeiten der Speicherung und daher auch der sofortigen Ver-
fügbarkeit von Information haben Ausmaße erreicht, von
denen wir Laien uns auch keine annähernde Vorstellung ma-
chen können. Hierzu ein Berufener, nämlich der Philosoph
JÜRGEN MITTELSTRASS (1986):
„Derzeit ist viel, vor allem in Politikermunde, von einer Informationsgesellschaft die Rede, zu der die bürgerliche Gesellschaft aufgebrochen sei. Mit diesem Schlagwort garniert man die Medienpolitik und die Vorstellung von einer technologischen Zukunft, in der sich die gesellschaftlichen Rationalitäten vornehmlich nach den Einfällen der Ingenieure richten sollen. Was dabei [. . .] übersehen wird, ist die Opposition von Information und Wissen, der Umstand nämlich, daß sich Information an die Stelle von Wissen zu setzen sucht und damit einer Art neuen Oberflächenexistenz das Wort redet. Während Wissen Gegensatz von Dummheit ist, gilt dies von Information nicht in allen Fällen. Gemeint ist: Wir durchschauen immer weniger, was uns in Form von Informationen zur Verfügung steht. [. . .] Wissen kann man sich nur als Wissender aneignen, Informationen muß man glauben.“
.... Weit mehr als es die Propagandaministerien totalitärer Staaten bis-
her fertiggebracht haben, erzeugt das Fernsehen eine freiwillige Unterwerfung und Gleichschaltung des Denkens und Fühlens, wie sie in der Geschichte der Menschheit wohl einmalig dasteht - nicht weil die Menschen früherer Epochen vielleicht
immuner waren, sondern weil die moderne Technologie zur Vertrottelung und Verrohung von Millionen von Individuen noch nicht bestand. Erst das Fernsehen lehrt uns, wie wir sprechen, handeln und uns kleiden sollen, welche Probleme der elegante, moderne Mensch haben darf, und wie er mit ihnen (meist gewalttätig) fertig werden kann. Auch hierzu nur ein Zitat aus berufener Quelle, nämlich aus NEIL POSTMANs (1985) Buch „Wir amüsieren uns zu Tode“:

„HUXLEY hat gezeigt, daß im technischen Zeitalter die kulturelle Ver-
wüstung weit häufiger die Maske grinsender Betulichkeit trägt als die
des Argwohns oder des Hasses. In HUXLEYS Prophezeiung ist der
Große Bruder gar nicht erpicht darauf, uns zu sehen. Wir sind darauf
erpicht, ihn zu sehen. Wächter, Gefängnistore oder Wahrheitsmini-
sterien sind unnötig. Wenn ein Volk sich von Trivialitäten ablenken
läßt, wenn das kulturelle Leben neu bestimmt wird als eine endlose
Reihe von Unterhaltungsveranstaltungen, als gigantischer Amüsier-
betrieb, wenn der öffentliche Diskurs zum unterschiedslosen Geplap-
per wird, kurz, wenn aus Bürgern Zuschauer werden und ihre öffent-
lichen Angelegenheiten zur Varieté-Nummer herunterkommen, dann
ist die Nation in Gefahr - das Absterben der Kultur wird zur realen
Bedrohung.“

Die grenzenlose Verkümmerung all dessen, was jahrtau-
sendelang für die Vornehmsten Eigenschaften und Möglichkeiten des Menschen galt, hinterläßt das schon eingangs erwähnte Gefühl der Leere und der vagen Bedrohung, und gibt Anlaß zu meist hilf- und planlosen Versuchen, diese Leere irgendwie zu
füllen…… Bei näherem Hinsehen erweisen sich die wunderbaren ›Ideen‹ 
der modernen Weltbeglücker praktisch ausnahmslos als bereits in früheren
Epochen verkündet, bald aber als nutzlos, wenn nicht gar unmenschlich erkannt und verworfen. Plus ça change, plus c'est la même chosesagt die Weisheit des Sprichworts. Auch in dieser Hinsicht wäre also die ganze Information verfügbar, aber ihre bloße Verfügbarkeit ist eben nicht gleichbedeutend mit Wissen……

Leben entwickelt sich bekanntlich in kleinsten Schritten, während alle großen Änderungen katastrophisch sind. Auch im Leben des einzelnen scheint es nicht anders zu
sein: Es sind kleine Schritte, nicht selten sogar unvorhergesehene Zufallsereignisse, die zum Ausgangspunkt wichtiger Neuentwicklungen werden können…… 
Aber nur wenige Dinge erzeugen rascheren Widerstand und moralische Entrüstung, als
eben eine Philosophie der kleinsten Schritte, wie sie schon KARL POPPER empfiehlt. 
Und mit ihm kommt einem auch der Philosoph ROBERT SPAEMANN in den Sinn, der den Mut hat, darauf zu verweisen, daß die einzig humane Definition des
Friedens nur eine negative, nämlich die Abwesenheit von Gewalt, sein kann, und daß jede positive Definition eo ipso zu Gewalt und Unmenschlichkeit führen muß. 
Die für viele Idealisten und Ideologen allzu bittere Pille ist: 
Wer das summum bonum anstrebt, setzt damit auch schon das summum malum.

P. Watzlawik
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"Sie eilen zur Untertänigkeit".
Racine, Britannicus.




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