Montag, 17. Oktober 2016

Religion und Glaube

 "...diese unsere Auffassung von Religion hat nur noch
herzlich wenig zu tun mit konfessioneller Engstirnigkeit und de-
ren Folge, religiöser Kurzsichtigkeit, die in Gott anscheinend ein
Wesen sieht, das im Grunde nur auf eines aus ist, und das ist:
daß eine möglichst große Zahl von Leuten an ihn glaubt, und
überdies noch genau so, wie eine ganz bestimmte Konfession es
vorschreibt. Ich kann mir einfach nicht vorstellen, daß Gott so
kleinlich ist. Ich kann mir aber auch nicht vorstellen, daß es sinn-
voll ist, wenn eine Kirche von mir verlangt, daß ich glaube. Ich
kann doch nicht glauben wollen - ebensowenig wie ich lieben
wollen, also zur Liebe mich zwingen kann, und ebensowenig,
wie ich mich zur Hoffnung zwingen kann, nämlich gegen besse-
res Wissen. Es gibt nun einmal Dinge, die sich nicht wollen las-
sen - und die sich daher auch nicht auf Verlangen, auf Befehl
herstellen lassen. Um ein einfaches Beispiel beizubringen: ich
kann nicht auf Befehl lachen. Wenn jemand will, daß ich lache,
dann muß er sich schon bemühen und mir einen Witz erzählen.
Und analog verhält es sich auch mit der Liebe und dem Glau-
ben; sie lassen sich nicht manipulieren. Als intentionale Phäno-
mene, die sie sind, stellen sie sich vielmehr erst dann ein, wenn
ein adäquater Inhalt und Gegenstand aufleuchtet.
Eines Tages wurde ich von einer Reporterin des amerikani-
schen Time-Magazins interviewt, und die Frage war, ob der
Trend von der Religion wegführt. Ich sagte, der Trend führe
nicht von der Religion weg, sehr wohl aber von jenen Konfessio-
nen, die anscheinend nichts anderes zu tun haben, als gegenein-
ander zu kämpfen und sich gegenseitig die Gläubigen abspenstig
zu machen. Nun fragte mich die Reporterin, ob dies heißt, daß
es früher oder später zu einer uníversalen Religion kommen
wird, was ich aber verneinte: im Gegenteil, sagte ich, wir gehen
nicht auf eine universale, vielmehr auf eine personale - eine zu-
tiefst personalisierte Religiosität zu, eine Religiosität, aus der
heraus jeder zu seiner persönlichen, seiner eigenen, seiner ur-
eigensten Sprache finden wird, wenn er sich an Gott wendet.
Dies bedeutet selbstverständlich noch lange nicht, daß es keine
gemeinsamen Rituale und Symbole geben wird. Gibt es doch
auch eine Vielzahl von Sprachen - und doch: gibt es nicht für
viele unter ihnen ein gemeinsames Alphabet?
So oder so, in ihrer Verschiedenheit gleichen die verschiedenen
Religionen den verschiedenen Sprachen: niemand kann sagen,
daß seine Sprache den anderen überlegen ist - in jeder Sprache
kann der Mensch an die Wahrheit herankommen - an die eine
Wahrheit -, und in jeder Sprache kann er irren, ja lügen. Und
so kann er denn auch durch das Medium jeder Religion hindurch
zu Gott finden - zu dem einen Gott.
Es fragt sich nur, ob sich überhaupt von Gott und nicht viel-
mehr nur zu ihm sprechen läßt. Den Satz von Ludwig Wittgen-
stein: „whereof one cannot speak, thereof one must be silent“ --- wovon man nicht sprechen kann, davon muß man schweigen -- können wir ja nicht nur aus dem Englischen ins Deutsche, sondern auch aus dem Agnostischen ins Theistische übersetzen - von dem man nicht sprechen kann, zu dem muß man beten.
Heute wenden sich Patienten an den Psychiater, weil sie am
Sinn ihres Lebens zweifeln oder gar daran verzweifeln, einen Le-
benssinn überhaupt zu finden. Eigentlich brauchte sich aber
heute niemand über Mangel an Lebenssinn zu beklagen; denn
er braucht nur seinen Horizont zu erweitern, um zu bemerken,
daß zwar wir uns des Wohlstands erfreuen, andere aber im Not-
stand leben; wir erfreuen uns der Freiheit; wo aber bleibt die
Verantwortlichkeit für die anderen? Vor Jahrtausenden hat sich
die Menschheit zum Glauben an den einen Gott durchgerungen:
zum Monotheismus - wo aber bleibt das Wissen um die eine
Menschheit, ein Wissen, das ich Monanthropismus nennen
möchte? "

P. Watzlawik

Keine Kommentare: