Freitag, 11. August 2017

Zunftsprache

"Es stimmt eben nicht, daß der Fortschritt der Wissenschaften oder neue Entwicklungen in anderen Bereichen das antike Wort auf den Plan rufen müßten; es liegt nicht im Wesen griechischer oder neuerdings englischer Silben, dehnbarer zu sein als deutsche Silben. Auch auf deutsch läßt sich freilich mit Zunftvo­kabeln trefflich protzen: Man stößt ja auf Leute, die eigens Jura studiert zu haben scheinen, damit sie das schöne deutsche Wort "Vernehmung" zur Einvernahme entstellen können.
Die Experten und ihre Nachbeter grenzen sich auf diese Weise hochmütig von den Laien ab, sie erkennen einander am Zunft­jargon und steigern ihr Lebensgefühl durch die berechtigte Hoff­nung, die Mehrheit ihrer Mitbürger vom Verständnis auszu­schließen. Falls sie eine Professur anstreben, müssen sie sich des Jargons bedienen, damit sie von den anderen Experten ernst ge­nommen werden; zumal in Disziplinen wie der Linguistik oder der Soziologie, von denen ja wenig übrigbliebe, wenn man ihnen das Vokabular entzöge. Wer massenmediale Phänomene untersucht, teilt unüberhörbar mit, daß er Kommunikationswissenschaft studiert hat, und wer einen relaunch abchecken kann, darf sich der Gilde der Marktforscher zurechnen." 
Wolf Schneider
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Als normaler Sterblicher hat man in manchen Bereichen keine Chance, wenn man sich nicht des Zunftjargons bedienen kann, z. B. im Gesundheitswesen oder vor Gericht. Bei letzterem ist man praktisch gezwungen, einen Anwalt zu nehmen, auch wenn man unschuldig ist, sonst geht man als zumindest Teilschuldiger hinaus.

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